AvaTourismus
Aileen Treusch
Paul Hutchinson beobachtet – sein Blick auf die Stadt ist mitfühlend melancholisch und hoffnungsvoll suchend zugleich. Es ist das besondere Gespür für ein Dazwischen, einen Schwellenzustand und eine Liminalität, das seine Fotografien auszeichnet. Zu sehen sind flüchtige Begegnungen, die ohne Resonanz zu bleiben scheinen; bedeutungslos? In eine Vergangenheitsbewältigung und Vorahnung der Zukunft mischen sich politische Statements: Wer ist bloß Bewohner:in, wer Bürger:in einer Stadt? Wer tritt in Erscheinung, darf bleiben, wohnen, dazugehören? Wer bleibt zurück oder sagt sich los? „Stadt für Alle“ zeigt geschwungene Rundum-Perspektiven auf das, was vor sich geht. Unorte sollen wieder zu Orten werden. Die Arbeiten kreisen ebenso um Fragen nach der eigenen Existenz und Identität. Wohin führt die Reise? Gebannt vom fortwährenden Kreislauf der Berliner „Ringbahn“, die sich über Hilfsmittel zur Beobachtung des Raums buchstäblich selbst bespiegelt, dokumentiert Hutchinson ein selbstreferenzielles Transit-System. Es zeigen sich Blickkontrollen und eine Überwachung im Takt der Metropole – noch 125 Meter bis zum Notausgang – für den, der aussteigen will, den, der nicht mehr mitfährt. Almost there – „Almost a Citizen“. Immer wieder taucht das Graffiti als demokratische, niedrigschwellige Kunstform auf, die interaktiv und für jeden zugänglich ist, gleichzeitig in enger Verbindung mit einer Gang- und Jugendkultur steht oder zum Ausdruck von Protest wird. Im Zusammenwirken von Tags, gebautem Stadtraum und flüchtigen Körperhaltungen entstehen Bildaussagen die sich als Zeitdokument im Einklang oder Widerspruch mit dem Abgebildeten befinden. Stadt für Alle (2020) zeigt ein Bauschild mit dynamisch geschwungener Architektur inklusive Rundum-Perspektiven auf das, was vor sich geht, und nimmt Bezug auf die Wohnungs- und Konsumkrise deutscher Innenstädte. Baulücken sollen wieder zu Orten werden - aber eben nicht für jeden. Paul Hutchinsons Spaziergänge und Fahrten durch die Stadt sind fotografische Bestandsaufnahmen, an die sich immer auch eine Neukontextualisierung und -anordnung der Aufnahmen anschließt, die alternative Wirklichkeiten und Denkweisen entstehen lässt. In besonderer Weise wird dies auch über ein Diptychon aus dem Bildpaar zusammen und Pallas, close up (2018) deutlich. Über die Gegenüberstellung zweier völlig unterschiedlicher Entitäten - ein brutalistischer Betonbau trifft auf die Berührung zweier nackter Körperteile - formt sich die Vorstellung von einem verletzlich fragilen Stadtkörper. Dabei leiten die Muttermale und Satellitenschüsseln den Blick der Betrachter:innen. Die Fassade wird sinnbildlich zur Haut (Oberfläche) der Architektur und alltäg- liche Gegenstände der digitalen Kommunikation wirken wie kleine Ornamente auf der kühlen Betonfassade. Als Beispiel für moderne Beton-Wohnanlagen aus den 1970er Jahren steht das Pallasseum (umgangssprachlich Pallas) in Berlin heute unter Denkmalschutz. Der einst im Zuge von Verwahrlosung und Vandalismus als „ Sozialpalast" bekannt gewordene Komplex ist ein Sinnbild für ein Bestreben nach Erhaltung und Aufwertung kostengünstiger und lebenswerter Wohn- und Lebensräume.
published on the occasion of the group exhibition AvaTourismus, Offenbacher Kunstverein Mañana Bold e.V., Atelier Frankfurt, Frankfurt/Main, 2021
AvaTourismus
Aileen Treusch
Paul Hutchinson beobachtet – sein Blick auf die Stadt ist mitfühlend melancholisch und hoffnungsvoll suchend zugleich. Es ist das besondere Gespür für ein Dazwischen, einen Schwellenzustand und eine Liminalität, das seine Fotografien auszeichnet. Zu sehen sind flüchtige Begegnungen, die ohne Resonanz zu bleiben scheinen; bedeutungslos? In eine Vergangenheitsbewältigung und Vorahnung der Zukunft mischen sich politische Statements: Wer ist bloß Bewohner:in, wer Bürger:in einer Stadt? Wer tritt in Erscheinung, darf bleiben, wohnen, dazugehören? Wer bleibt zurück oder sagt sich los? „Stadt für Alle“ zeigt geschwungene Rundum-Perspektiven auf das, was vor sich geht. Unorte sollen wieder zu Orten werden. Die Arbeiten kreisen ebenso um Fragen nach der eigenen Existenz und Identität. Wohin führt die Reise? Gebannt vom fortwährenden Kreislauf der Berliner „Ringbahn“, die sich über Hilfsmittel zur Beobachtung des Raums buchstäblich selbst bespiegelt, dokumentiert Hutchinson ein selbstreferenzielles Transit-System. Es zeigen sich Blickkontrollen und eine Überwachung im Takt der Metropole – noch 125 Meter bis zum Notausgang – für den, der aussteigen will, den, der nicht mehr mitfährt. Almost there – „Almost a Citizen“. Immer wieder taucht das Graffiti als demokratische, niedrigschwellige Kunstform auf, die interaktiv und für jeden zugänglich ist, gleichzeitig in enger Verbindung mit einer Gang- und Jugendkultur steht oder zum Ausdruck von Protest wird. Im Zusammenwirken von Tags, gebautem Stadtraum und flüchtigen Körperhaltungen entstehen Bildaussagen die sich als Zeitdokument im Einklang oder Widerspruch mit dem Abgebildeten befinden. Stadt für Alle (2020) zeigt ein Bauschild mit dynamisch geschwungener Architektur inklusive Rundum-Perspektiven auf das, was vor sich geht, und nimmt Bezug auf die Wohnungs- und Konsumkrise deutscher Innenstädte. Baulücken sollen wieder zu Orten werden - aber eben nicht für jeden. Paul Hutchinsons Spaziergänge und Fahrten durch die Stadt sind fotografische Bestandsaufnahmen, an die sich immer auch eine Neukontextualisierung und -anordnung der Aufnahmen anschließt, die alternative Wirklichkeiten und Denkweisen entstehen lässt. In besonderer Weise wird dies auch über ein Diptychon aus dem Bildpaar zusammen und Pallas, close up (2018) deutlich. Über die Gegenüberstellung zweier völlig unterschiedlicher Entitäten - ein brutalistischer Betonbau trifft auf die Berührung zweier nackter Körperteile - formt sich die Vorstellung von einem verletzlich fragilen Stadtkörper. Dabei leiten die Muttermale und Satellitenschüsseln den Blick der Betrachter:innen. Die Fassade wird sinnbildlich zur Haut (Oberfläche) der Architektur und alltäg- liche Gegenstände der digitalen Kommunikation wirken wie kleine Ornamente auf der kühlen Betonfassade. Als Beispiel für moderne Beton-Wohnanlagen aus den 1970er Jahren steht das Pallasseum (umgangssprachlich Pallas) in Berlin heute unter Denkmalschutz. Der einst im Zuge von Verwahrlosung und Vandalismus als „ Sozialpalast" bekannt gewordene Komplex ist ein Sinnbild für ein Bestreben nach Erhaltung und Aufwertung kostengünstiger und lebenswerter Wohn- und Lebensräume.
published on the occasion of the group exhibition AvaTourismus, Offenbacher Kunstverein Mañana Bold e.V., Atelier Frankfurt, Frankfurt/Main, 2021