Mirko Lux im Gespräch mit Paul Hutchinson und Sabine Scho
„Wir sind ja immer noch lebendige Individuen“: Über intermediale Kunstpraxis
Der Austausch zwischen Sabine Scho und Paul Hutchinson entwirft ein Panorama künstlerischer Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Interdisziplinarität und Marktlogik. Als „fotografierende Autorin“ und crossmedialer Künstler loten sie aus, wie sich Lyrik, Fotografie und Installation jenseits etablierter Genrezuweisungen verbinden lassen – stets im Widerstreit zwischen schöpferischem Impuls und Vermarktungszwängen. Während Scho physische Präsenz als Kern ihrer Recherche betont und kollaborative Netzwerke beschreibt, offenbart Hutchinson die Paradoxien eines Arbeitsalltags zwischen Studioroutine und digitaler Entgrenzung. Ihr Dialog konfrontiert institutionelle blind spots ebenso wie die Illusion künstlerischer Autonomie und fordert dazu auf, Kunst als permanentes Experiment zwischen Kontrolle und Zufall neu zu denken.
Mirko Lux: Sabine nennt sich auf ihrer Website „fotografierende Autorin“. Wie würdest du dich beschreiben, Paul? Eher als Lyriker, Fotograf oder ...?
Paul Hutchinson: Ich sehe mich einfach als Künstler im weitesten Sinne. Ich will mich nicht zwingend auf eine oder zwei Sparten festlegen. Ich bin vor allem produzierender Mensch im Kontext der zeitgenössischen Kunst, weil mich die verschiedenen Diskurse dort interessieren. Nicht aufgrund eines spezifischen Mediums. Ich bin neugierig und produziere aus dieser Neugierde heraus. Schreiben und Fotografieren sind dabei bislang die zentralen Elemente.
ML: Aber im Kunstmarkt oder literarischen Feld braucht man doch ein klares Label, damit die Leute wissen, was sie erwartet, oder?
Sabine Scho: „Fotografierende Autorin“ ist nicht nur ein Label, sondern zeigt, dass ich mehr mache als Gedichte schreiben. Fotografie und Text kommen bei mir zusammen. In meiner Biografie erwähne ich inzwischen auch Installationen, weil ich mit verschiedenen Materialien arbeite, zum Beispiel kürzlich im Spreepark mit Flaggen. Ich stimme Paul zu: Man kann uns einfach Künstler∙innen nennen, die mit unterschiedlichen Medien arbeiten, je nach Möglichkeiten und Projekten.
ML: Wie nimmt euch die Kunstwelt auf? Wie offen ist sie für multidisziplinäre Künstler∙innen?
SabS: Eigentlich schon ganz gut, oder? [lacht]
PH: [lacht ebenfalls] Ja, denke ich auch ... Es ist ja fast unsere Aufgabe, uns gegen Labels zu wehren. Labels dienen der Vermarktung, was nachvollziehbar ist, aber unsere Aufgabe ist die Qualität der Produktion, nicht die Vermarktung. Wenn ich also einen Impuls spüre, spartenübergreifend zu arbeiten, dann möchte ich das auch zeigen und mich nicht auf Fotografie oder Schreiben reduzieren lassen. Für manche Kolleg∙innen funktioniert es, sich auf ein Medium zu konzentrieren – das hat seinen eigenen Wert. Aber für mich passt das nicht. Gerade in einer so effizienzgetriebenen Welt finde ich es wichtig, dagegenzuhalten und auch eine breitere Praxis vertreten zu können. Das spiegelt zugleich meine Wahrnehmung des Lebens wider: Es gibt verschiedene Anforderungen und damit auch verschiedene Outputs. Dabei finde ich es eigentlich nur wichtig, bei sich zu bleiben und sich nicht von Trends wie Instagramoder Schlagzeilen-Tauglichkeit verunsichern zu lassen.
SabS: Es bleibt aber schwierig, damit im Kunstmarkt Fuß zu fassen. Besonders im klassischen White-Cube-Kontext ist es schwer, sich ohne Galerist∙innen durchzusetzen – vor allem als interdisziplinär arbeitende∙r Künstler∙in. Ich habe das gemerkt, als ich 2015 im Museum für Naturkunde Berlin eine Intervention machen durfte. Damals war viel Aufmerksamkeit da, aber das ebbte ab. Ohne die richtige Infrastruktur wird man schnell unsichtbar. In Auftragskontexten lief es für mich besser: Da zählt die Expertise und Empfehlungen tragen einen weiter. Aber wenn man in der bildenden Kunst wahrgenommen werden will, muss man sich aktiv um Netzwerke kümmern.
PH: In meiner Realität gibt es auch verschiedene Blasen. Einerseits das internationale Gefüge des zeitgenössischen Kunstbetriebs, in dem ich täglich arbeite, mit Messen, Ausstellungen, Galerien, Kurator∙innen, Institutionen etc. Und innerhalb dessen gibt es auch wieder verschiedene Unterteilungen. Einige davon sind durchaus offen für crossmediale Künstler∙innen. Andererseits beobachte ich, dass es kaum Überschneidungen gibt zwischen den professionellen Arbeitswelten von zeitgenössischer Kunst und Literatur. Da wird es interessant, weil du mehr in der Literatur bist, Sabine, und ich in der Kunst. Und der Kontext verändert natürlich stark die Wahrnehmung der jeweiligen Arbeit.
SabS: Man sitzt oft zwischen den Stühlen. Die Literaturwelt zieht sich zurück, wenn man ihre Räume verlässt. Bei Hatje Cantz wurde Haus für einen Boxer verlegt, ein installatives Crossover-Projekt, das ich in der Villa Massimo erdachte und mit dem Architekten Sebastian Felix Ernst und der Musikerin Golden Diskó Ship und Andreas Töpfer, der die die Installation begleitende Buchgestaltung übernahm, umsetzte, aber das Feuilleton ignoriert es, obwohl Lyrik drin ist. Kunstbücher werden nicht besprochen, auch wenn sie Literatur enthalten.
ML: Plakativ gefragt: Bei einem Lyrikband habe ich das Gefühl, ich lese ihn von vorne nach hinten durch. Ein Fotobuch hingegen kann ich durchblättern und irgendwo hängen bleiben – die Reihenfolge scheint weniger wichtig.
PH: Dem würde ich nicht unbedingt zustimmen. Zum Beispiel bei meiner Publikation 21 Poems and 16 Pictures from L. A. (Sies + Höke, 2023) breche ich bewusst mit der klassischen Lesbarkeit eines Fotobuchs. Ich habe darin Texte und Textfragmente aus meiner Zeit in der Villa Aurora verwendet, ohne sie zu editieren oder bewusst zu arrangieren. Es ging darum, der Nichtkontrolle Raum zu geben und von der üblichen Fotobuchgestaltung abzuweichen. Zufall spielte also bei der Entstehung der Publikation eine zentrale Rolle. Dennoch ist die Leserichtung relevant. Ein Beispiel ist das letzte Wort im Buch: „yes“. Es war das letzte Wort in meinem ursprünglichen Textdokument und hat sich auch in der fertigen Publikation an letzter Stelle eingefunden. Im fertigen Layout überlagert dieses Wort das Bild von einem Sonnenuntergang auf der letzten Seite. Vor Kurzem ist mir aufgefallen, dass es ein bisschen an Ulysses von James Joyce erinnert, wo die letzten Worte auch das wiederholte „yes“ sind – eine unabsichtliche Referenz. Aber es geht darum, die lesende Person über das Buch hinweg zu etwas hinzuführen, sie auf der einen Seite dramaturgisch zu leiten, aber auch selbstständig Dinge entdecken zu lassen. Und schlussendlich in dieser optimistischen Bejahung zu enden, bildlich wie textlich. Um diese Erfahrung zu machen ist die Lese-Reihenfolge natürlich relevant. Auch wenn es in der Produktion des Buches erst mal darum ging, Kontrolle abzugeben.
SabS: In meinem Antiquariatspodcast Rare books, care looks hatten wir mal eine Folge über The Americans von Robert Frank. Als das Buch rauskam, war es revolutionär: Er hat die Kamera oft einfach hochgehalten, ohne durch den Sucher zu schauen. Diese drunken horizons und die scheinbare Nachlässigkeit wurden anfangs stark kritisiert. Heute streben wir mit Technik das Gegenteil an – alles soll perfekt ausgerichtet sein, selbst Schnappschüsse werden optimiert. Aber Franks Ansatz, Kontrolle abzugeben, ist hängen geblieben. Was du sagst, erinnert daran: Wann geben wir Kontrolle wirklich ab? Stattdessen entwickeln wir ständig neue Methoden, um noch mehr Kontrolle zu gewinnen.
PH: Meiner Erfahrung nach wird in der Fotografie oft nach Form gefragt, was auch seine Berechtigung hat. Aber ich konzentriere mich eher auf Inhalte, die mich bewegen, statt auf formelle Fragen.
SabS: Bei deiner Lyrik ist es anders, weil du viel mit Reimen arbeitest.
PH: Ja, das stimmt. Ich bin bei meinen Texten oft formfixiert, was ich als Schwäche sehe. Die besten Texte sind für mich die, die frei von Formzwängen sind. Wenn man den Kunstwillen zu sehr merkt, wird es platt.
SabS: Ich finde, deine Gedichte und Fotos passen perfekt zusammen. Deine Reime sind nicht nur schmückend, sondern heben das Denken hervor und schaffen Wendepunkte. Ich verstehe nicht, warum man nicht beides gleichzeitig denken kann. Viele Künstler wie Wolfgang Tillmans kombinieren Medien erfolgreich. Es geht darum, das Denken hinter dem Medium zu zeigen, nicht nur das Medium selbst.
ML: Wie seht ihr Technik in der Lyrik im Vergleich zur Fotografie? Geht es da mehr ums Handwerk?
SabS: Handwerk ist da, und man kann es nutzen oder unterlaufen. Ob Fremdwörterbuchsonette von Ann Cotten oder Spenserstrophe – solche Formen sind ein Framing, das man mit Inhalten füllt und auch bricht. Es geht nicht darum, Handwerk auszustellen, sondern zu wissen, dass es existiert, und es gezielt einzusetzen. Genauso in der Fotografie: Ich kann die Kontrolle abgeben, eine Lochkamera bauen oder bewusst grobkörniges Papier wählen. Entscheidungen wie diese hängen davon ab, was ich vermitteln will – etwa Menge und Chaos im Alltag. Da bearbeite ich nicht jedes Bild einzeln, sondern entwickle eine Idee, wie ich Menge darstelle.
ML: Könnt ihr noch mal konkreter über eure Praxis sprechen? Wie arbeitet ihr, und wo unterscheidet ihr euch?
PH: Bei mir beginnt alles mit einer Art Überproduktion. Ich mache zu viele Bilder und schreibe zu viele Texte. Der eigentliche Prozess ist das Filtern: Aus 5000 Bildern vielleicht zwei zu identifizieren, die für eine Ausstellung interessant sind. Ähnlich bei den Texten: Ich notiere Skizzen und Ideen und greife später darauf zurück, wenn sie zu einem Projekt passen. Es geht darum, aus diesem Wegbereiter-Material die relevanten Stücke herauszuarbeiten.
SabS: Ich glaube, so ganz weit bin ich davon nicht entfernt. Ich habe allerdings immer ein Framing. Also ich habe ein Projekt ... ein Projekt ist vielleicht zu viel gesagt, ich habe vielleicht einen Titel, also so wie „Tiere und Architektur“, inspiriert von einem Buch über Tiere und ihre Bauten sowie die Gestaltung von Zoos. Das führte mich zu „Animals in Architecture“ – eine Verschiebung hin zu uns Menschen und unseren Gebäuden und denen, die wir für Tiere ersinnen. Oder Album, mein Einstand, basierte auf einem Fotoalbum aus den 50erund 60er-Jahren, das ich auf einem Flohmarkt fand. Daraus habe ich Texte entwickelt, die sich an den Bildern entlangschreiben. So entsteht ein Rahmen, den ich befülle.
ML: Das ist, glaube ich, ein ziemlich starker Unterschied zwischen euch. Paul, du hast eher einen autobiografischen Ansatz in deiner Arbeit, während du, Sabine, eher recherchierst?
SabS: Martina Hefter hat mal gesagt: „Man schreibt über das, wozu man Zugang hat.“ Aber ich denke oft, ich möchte mir auch Zugänge verschaffen. Als ich damals War Photographer von James Nachtwey gesehen habe oder an Robert Capa dachte, war ich total fasziniert. In der Fotografie finde ich es wichtig, sich physisch in Situationen zu begeben – ob hier in Berlin oder anderswo. Ich bin mit Mittelformatkameras losgezogen und habe gemerkt, wie sehr äußere Einflüsse wie Licht oder Wetter die Arbeit prägen. Zum Beispiel in Island, als ich für The Origin of Values zum Thema Walfang fotografiert habe: Wir standen vor dieser Walfabrik von Kristján Loftsson, die während der Pandemie stillgelegt war. Es war eiskalt, und mir sind fast die Finger abgefroren. Aber genau diese physische Erfahrung – vor Ort zu sein, die Bilder von Sea Shepherd zu sehen und investigativ zu arbeiten – bringt mich zur Fotografie. Es geht nicht nur darum, Gedichte am Schreibtisch zu schreiben, sondern auch darum, zu wissen, wie es sich anfühlt, an solchen Orten zu sein. Die Fotografie zwingt mich dazu, an den Ort zu gehen und mir ein Bild im wahrsten Sinne des Wortes zu machen. Das hilft mir auch beim Dichten. Ich mache nicht nur Texte aus Texten – ich habe ein großes Archiv im Kopf –, aber die Fotografie bringt mich in diese physischen Räume. Zum Beispiel im Griffith Park in Los Angeles: Dort habe ich den verlassenen Zoo fotografiert. Diese Magie des Ortes hat mich inspiriert. Für die Lyrik müsste ich das nicht unbedingt tun, aber genau das zieht mich zur Fotografie. Die Frage, wann man auf den Auslöser drückt und warum, ist zentral. Wir leben in einer Welt voller Bilder, aber kaum jemand lehrt uns, wie man Bilder liest. Walter Benjamin sagte: „Was nie geschrieben wurde, lesen.“ Genau das fehlt oft. Früher gab es Magazine wie Life, die Geschichten über Bilder erzählten. Heute passiert das wieder verstärkt, aber oft ohne Reflexion.
ML: Und bei dir, Paul? Schreiben und Fotografieren sind unabhängige Praktiken, die du im Editionsprozess zusammenbringst?
PH: Ja, genau. Ich schreibe nicht zu einem Bild und fotografiere nicht basierend auf einem Text. Beide Aktivitäten sind unabhängig, aber sie behandeln ähnliche Themen und haben eine ähnliche Ausdrucksweise. Es gibt Fälle, in denen Texte oder Bilder von mir alleine veröffentlicht werden oder in einem eigenen Kontext stehen. Und dann gibt es die Fälle, in denen Text und Bild zusammenkommen. Wenn ich zum Beispiel für ein Magazinlayout angefragt werde, überlege ich mir genau, was der Kontext des Magazins ist und was ich dazu sagen möchte. Oft platziere ich Texte direkt auf Bildern. Ich überlege mir: Was für ein Gefühl oder was für einen Inhalt vermittelt dieses Bild? Und was passiert, wenn dieser Text dort steht? Bricht es die Aussage, verstärkt es sie, faltet es sie zusammen? Es kann schnell kippen und oberflächlich werden. Ich denke darüber nach, welche Gesamtkompositionen sich ergeben – sowohl inhaltlich als auch formell. Alle diese Art Layouts mache ich selbst.
SabS: Auf deiner Galerie-Homepage wirkt das fast filmisch. Deine Texte vermitteln ein Gefühl, als ob man in einem Auto sitzt, den Arm aus dem Fenster hält und diese Bewegung macht. Es erinnert mich an Sommerferien, die erste Zeit mit dem Führerschein, den ersten Ausflug nach Frankreich – dieses Freiheitsgefühl, das man auch in Amerika spüren kann, trotz aller Schwierigkeiten. Das finde ich wirklich beeindruckend, weil es bei dir so filmisch in Bewegung gesetzt wird.
PH: Ja, ich glaube, es ist wichtig, sich diese Art Gefühl immer wieder in Erinnerung zu rufen. Egal, ob in Amerika oder sonst wo. Trotz Hamsterrädern und dem täglichen Struggle. Man muss sich mentale und physische Freiräume schaffen. Wir sind ja immer noch lebendige Individuen. Auch mir fällt das schwer, und es gibt nur wenige Momente, in denen ich diese Freiheit wirklich spüre. Aber wenn sie da ist, habe ich so eine Art luziden Moment. Das hat nicht nur mit Freiheit zu tun, sondern auch mit Klarheit im Denken. Gerade in der Künstler∙innenexistenz gibt es ja oft Phasen, in denen man nur im Standby-Modus funktioniert. Aber dann kommen diese seltenen Momente der Klarheit, wo Dinge plötzlich Sinn ergeben und man in seiner Arbeit oder auch im Privaten weiterkommt. Diese luziden Momente wahrzunehmen und wertzuschätzen ist für mich superwichtig – und das vergisst man schnell.
ML: Freiheit ist ein gutes Stichwort. Sabine, du arbeitest oft in kollaborativen Zusammenhängen. Das interessiert mich, weil viele deiner Bücher kongenial von Andreas Töpfer gestaltet sind, du hast gerade mit Martina Kieninger in einer Performanceserie zusammengearbeitet und das Haus für einen Boxer mit drei anderen Künstler∙innen gemacht. Seit Langem arbeitest du mit Matthias Holtmann zusammen.
SabS: Ich bin ein Teamplayer. Man müsste die anderen fragen, aber es bedeutet oft, die Komfortzone zu verlassen. Mit Andreas Töpfer weiß man mittlerweile, was man voneinander erwarten kann. Er arbeitet mit allen, die bei Kookbooks erscheinen, und macht aus Manuskripten auf kongeniale Weise Bücher. Seine Handschrift zieht sich durch alles, was bei Kookbooks erscheint. Unsere Zusammenarbeit basiert darauf, dass keiner dem anderen vorschreibt, wie etwas zu machen ist. Man legt etwas vor und ist gespannt, was der andere daraus macht. Es geht darum, sich als vollwertige künstlerische Partner∙innen zu akzeptieren und nicht nur eine Dienstleistung am Manuskript zu erbringen. So arbeite ich auch mit anderen zusammen. Es ist keine Band im klassischen Sinne. Jeder hat seine eigenen Gedanken und setzt sie um. Diese Kollaborationen sind sehr freiheitlich und unabhängig. Wir haben ein gemeinsames Thema und sind gespannt auf die Herangehensweise des∙der anderen. Es geht nicht darum zu sagen: „Ich habe das so gemacht und du musst es jetzt so machen.“ Ich bin nicht der Master of Ceremony, der andere engagiert und ihnen sagt, was sie tun sollen. Alle haben mehr Spaß, wenn sie frei sind in dem, was sie tun wollen. Bei der Rotten Kinck Schow war es ähnlich. Wir hatten ein gemeinsames Thema und jede brachte etwas ein. Man choreografiert es gemeinsam, aber es wäre falsch zu denken, dass wir ein eingespieltes Team sind.
ML: Da wir gerade von Lesungen sprechen: Wie zentral ist das bei dir Paul, wirst du auch zu Lesungen eingeladen?
PH: Ja, das kommt schon mal vor. Zum Beispiel hatte ich erst kürzlich zwei Lesungen im Rahmen einer Ausstellung in Düsseldorf. Das war so halb selbstorganisiert, halb auf Einladung. Die Ausstellungsmacher wussten von meiner Schreibpraxis und haben gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte. Und ich mache das eigentlich ganz gerne. Aber im Verhältnis zu meinen anderen Aktivitäten passiert das eher selten.
ML: Liegt das an den Verlagen?
PH: Genau, die Verlage, mit denen ich arbeite, sind nicht darauf ausgerichtet, ihre Autor∙innen durch Buchhandlungen zu schicken oder Lesungen zu organisieren. Und ich könnte und würde diese Organisation auch nicht selbst übernehmen wollen. Lustigerweise habe ich die ferne Ambition, dass eine meiner nächsten Publikationen ein reines Textbuch wird. Dafür würde ich dann wahrscheinlich mit einem Verlag zusammenarbeiten, der stärker im Literaturbereich aktiv ist und mehr Fokus auf Lesungen legt. Denn das Lesen der Texte ist für mich ein klarer Teil meiner Arbeit. Allerdings hat die Literatur arbeitspragmatisch gesehen in meinem Alltag oft eine niedrigere Priorität. Erst kommen die Bilder: Welche zeigen wir? Wann werden sie produziert? Wie viel kostet es? Wer holt sie ab? Wer baut sie auf? Und erst dann denkt man an Nebenaktivitäten wie Lesungen.
ML: Lesungen bringen ja auch viele Fragen mit sich.
PH: Total! Aber da ich eher im Kunst-Kontext arbeite, stehen andere Dinge oft im Vordergrund. Gewissermaßen zu Recht, weil die Leute in dem Zusammenhang natürlich primär wegen der Bilder kommen.
SabS: Aber online ist es ja anders. So bin ich auf deine Arbeiten gestoßen. Da waren Text, Stimme und Bilder sofort präsent – auch in kleinen Filmen. Das war wie eine Ausstellung to go. Alles war gleichzeitig da und gleichwertig.
PH: Emotional sind alle Aktivitäten für mich auch komplett gleichberechtigt. Aber im Studioalltag geht es viel um die Bilder: Wo sind sie physisch? Wer macht was damit?
ML: Ist die Idee eines reinen Textbuchs dann auch ein Versuch, dich stärker auf Literatur zu fokussieren?
PH: Ja, vielleicht. Aber es fühlt sich vor allem einfach richtig an. Ich denke da gar nicht so sehr drüber nach, wie es wahrgenommen wird oder wer es ernst nimmt. Ich habe bisher acht Bücher veröffentlicht – zwei davon waren nur Bilder, der Rest Texte und Bilder gemischt. Jetzt fühlt es sich langsam so an, als wäre es an der Zeit, sich nur auf Text zu konzentrieren.
SabS: Aber man darf sich nicht täuschen – selbst bei Verlagen organisiert man Lesungen oft selbst oder wird von Festivals eingeladen. Große Lesereisen hatte ich nie.
PH: Darum geht es mir auch nicht. Es geht eher darum zu identifizieren, was für mich selbst in diesem Moment wirklich Bedeutung hat. Und ob ich die Fähigkeiten besitze, adäquat darüber zu sprechen. Alles andere – ob ich zu Lesungen eingeladen werde oder mit welchem Verlag ich zusammenarbeite – ist zweitrangig. Die Frage ist nur, ob man Raum findet für diesen Versuch.
published in Sprache im Technisches Zeitalter, Issue 254, June 2025
Mirko Lux im Gespräch mit Paul Hutchinson und Sabine Scho
„Wir sind ja immer noch lebendige Individuen“: Über intermediale Kunstpraxis
Der Austausch zwischen Sabine Scho und Paul Hutchinson entwirft ein Panorama künstlerischer Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Interdisziplinarität und Marktlogik. Als „fotografierende Autorin“ und crossmedialer Künstler loten sie aus, wie sich Lyrik, Fotografie und Installation jenseits etablierter Genrezuweisungen verbinden lassen – stets im Widerstreit zwischen schöpferischem Impuls und Vermarktungszwängen. Während Scho physische Präsenz als Kern ihrer Recherche betont und kollaborative Netzwerke beschreibt, offenbart Hutchinson die Paradoxien eines Arbeitsalltags zwischen Studioroutine und digitaler Entgrenzung. Ihr Dialog konfrontiert institutionelle blind spots ebenso wie die Illusion künstlerischer Autonomie und fordert dazu auf, Kunst als permanentes Experiment zwischen Kontrolle und Zufall neu zu denken.
Mirko Lux: Sabine nennt sich auf ihrer Website „fotografierende Autorin“. Wie würdest du dich beschreiben, Paul? Eher als Lyriker, Fotograf oder ...?
Paul Hutchinson: Ich sehe mich einfach als Künstler im weitesten Sinne. Ich will mich nicht zwingend auf eine oder zwei Sparten festlegen. Ich bin vor allem produzierender Mensch im Kontext der zeitgenössischen Kunst, weil mich die verschiedenen Diskurse dort interessieren. Nicht aufgrund eines spezifischen Mediums. Ich bin neugierig und produziere aus dieser Neugierde heraus. Schreiben und Fotografieren sind dabei bislang die zentralen Elemente.
ML: Aber im Kunstmarkt oder literarischen Feld braucht man doch ein klares Label, damit die Leute wissen, was sie erwartet, oder?
Sabine Scho: „Fotografierende Autorin“ ist nicht nur ein Label, sondern zeigt, dass ich mehr mache als Gedichte schreiben. Fotografie und Text kommen bei mir zusammen. In meiner Biografie erwähne ich inzwischen auch Installationen, weil ich mit verschiedenen Materialien arbeite, zum Beispiel kürzlich im Spreepark mit Flaggen. Ich stimme Paul zu: Man kann uns einfach Künstler∙innen nennen, die mit unterschiedlichen Medien arbeiten, je nach Möglichkeiten und Projekten.
ML: Wie nimmt euch die Kunstwelt auf? Wie offen ist sie für multidisziplinäre Künstler∙innen?
SabS: Eigentlich schon ganz gut, oder? [lacht]
PH: [lacht ebenfalls] Ja, denke ich auch ... Es ist ja fast unsere Aufgabe, uns gegen Labels zu wehren. Labels dienen der Vermarktung, was nachvollziehbar ist, aber unsere Aufgabe ist die Qualität der Produktion, nicht die Vermarktung. Wenn ich also einen Impuls spüre, spartenübergreifend zu arbeiten, dann möchte ich das auch zeigen und mich nicht auf Fotografie oder Schreiben reduzieren lassen. Für manche Kolleg∙innen funktioniert es, sich auf ein Medium zu konzentrieren – das hat seinen eigenen Wert. Aber für mich passt das nicht. Gerade in einer so effizienzgetriebenen Welt finde ich es wichtig, dagegenzuhalten und auch eine breitere Praxis vertreten zu können. Das spiegelt zugleich meine Wahrnehmung des Lebens wider: Es gibt verschiedene Anforderungen und damit auch verschiedene Outputs. Dabei finde ich es eigentlich nur wichtig, bei sich zu bleiben und sich nicht von Trends wie Instagramoder Schlagzeilen-Tauglichkeit verunsichern zu lassen.
SabS: Es bleibt aber schwierig, damit im Kunstmarkt Fuß zu fassen. Besonders im klassischen White-Cube-Kontext ist es schwer, sich ohne Galerist∙innen durchzusetzen – vor allem als interdisziplinär arbeitende∙r Künstler∙in. Ich habe das gemerkt, als ich 2015 im Museum für Naturkunde Berlin eine Intervention machen durfte. Damals war viel Aufmerksamkeit da, aber das ebbte ab. Ohne die richtige Infrastruktur wird man schnell unsichtbar. In Auftragskontexten lief es für mich besser: Da zählt die Expertise und Empfehlungen tragen einen weiter. Aber wenn man in der bildenden Kunst wahrgenommen werden will, muss man sich aktiv um Netzwerke kümmern.
PH: In meiner Realität gibt es auch verschiedene Blasen. Einerseits das internationale Gefüge des zeitgenössischen Kunstbetriebs, in dem ich täglich arbeite, mit Messen, Ausstellungen, Galerien, Kurator∙innen, Institutionen etc. Und innerhalb dessen gibt es auch wieder verschiedene Unterteilungen. Einige davon sind durchaus offen für crossmediale Künstler∙innen. Andererseits beobachte ich, dass es kaum Überschneidungen gibt zwischen den professionellen Arbeitswelten von zeitgenössischer Kunst und Literatur. Da wird es interessant, weil du mehr in der Literatur bist, Sabine, und ich in der Kunst. Und der Kontext verändert natürlich stark die Wahrnehmung der jeweiligen Arbeit.
SabS: Man sitzt oft zwischen den Stühlen. Die Literaturwelt zieht sich zurück, wenn man ihre Räume verlässt. Bei Hatje Cantz wurde Haus für einen Boxer verlegt, ein installatives Crossover-Projekt, das ich in der Villa Massimo erdachte und mit dem Architekten Sebastian Felix Ernst und der Musikerin Golden Diskó Ship und Andreas Töpfer, der die die Installation begleitende Buchgestaltung übernahm, umsetzte, aber das Feuilleton ignoriert es, obwohl Lyrik drin ist. Kunstbücher werden nicht besprochen, auch wenn sie Literatur enthalten.
ML: Plakativ gefragt: Bei einem Lyrikband habe ich das Gefühl, ich lese ihn von vorne nach hinten durch. Ein Fotobuch hingegen kann ich durchblättern und irgendwo hängen bleiben – die Reihenfolge scheint weniger wichtig.
PH: Dem würde ich nicht unbedingt zustimmen. Zum Beispiel bei meiner Publikation 21 Poems and 16 Pictures from L. A. (Sies + Höke, 2023) breche ich bewusst mit der klassischen Lesbarkeit eines Fotobuchs. Ich habe darin Texte und Textfragmente aus meiner Zeit in der Villa Aurora verwendet, ohne sie zu editieren oder bewusst zu arrangieren. Es ging darum, der Nichtkontrolle Raum zu geben und von der üblichen Fotobuchgestaltung abzuweichen. Zufall spielte also bei der Entstehung der Publikation eine zentrale Rolle. Dennoch ist die Leserichtung relevant. Ein Beispiel ist das letzte Wort im Buch: „yes“. Es war das letzte Wort in meinem ursprünglichen Textdokument und hat sich auch in der fertigen Publikation an letzter Stelle eingefunden. Im fertigen Layout überlagert dieses Wort das Bild von einem Sonnenuntergang auf der letzten Seite. Vor Kurzem ist mir aufgefallen, dass es ein bisschen an Ulysses von James Joyce erinnert, wo die letzten Worte auch das wiederholte „yes“ sind – eine unabsichtliche Referenz. Aber es geht darum, die lesende Person über das Buch hinweg zu etwas hinzuführen, sie auf der einen Seite dramaturgisch zu leiten, aber auch selbstständig Dinge entdecken zu lassen. Und schlussendlich in dieser optimistischen Bejahung zu enden, bildlich wie textlich. Um diese Erfahrung zu machen ist die Lese-Reihenfolge natürlich relevant. Auch wenn es in der Produktion des Buches erst mal darum ging, Kontrolle abzugeben.
SabS: In meinem Antiquariatspodcast Rare books, care looks hatten wir mal eine Folge über The Americans von Robert Frank. Als das Buch rauskam, war es revolutionär: Er hat die Kamera oft einfach hochgehalten, ohne durch den Sucher zu schauen. Diese drunken horizons und die scheinbare Nachlässigkeit wurden anfangs stark kritisiert. Heute streben wir mit Technik das Gegenteil an – alles soll perfekt ausgerichtet sein, selbst Schnappschüsse werden optimiert. Aber Franks Ansatz, Kontrolle abzugeben, ist hängen geblieben. Was du sagst, erinnert daran: Wann geben wir Kontrolle wirklich ab? Stattdessen entwickeln wir ständig neue Methoden, um noch mehr Kontrolle zu gewinnen.
PH: Meiner Erfahrung nach wird in der Fotografie oft nach Form gefragt, was auch seine Berechtigung hat. Aber ich konzentriere mich eher auf Inhalte, die mich bewegen, statt auf formelle Fragen.
SabS: Bei deiner Lyrik ist es anders, weil du viel mit Reimen arbeitest.
PH: Ja, das stimmt. Ich bin bei meinen Texten oft formfixiert, was ich als Schwäche sehe. Die besten Texte sind für mich die, die frei von Formzwängen sind. Wenn man den Kunstwillen zu sehr merkt, wird es platt.
SabS: Ich finde, deine Gedichte und Fotos passen perfekt zusammen. Deine Reime sind nicht nur schmückend, sondern heben das Denken hervor und schaffen Wendepunkte. Ich verstehe nicht, warum man nicht beides gleichzeitig denken kann. Viele Künstler wie Wolfgang Tillmans kombinieren Medien erfolgreich. Es geht darum, das Denken hinter dem Medium zu zeigen, nicht nur das Medium selbst.
ML: Wie seht ihr Technik in der Lyrik im Vergleich zur Fotografie? Geht es da mehr ums Handwerk?
SabS: Handwerk ist da, und man kann es nutzen oder unterlaufen. Ob Fremdwörterbuchsonette von Ann Cotten oder Spenserstrophe – solche Formen sind ein Framing, das man mit Inhalten füllt und auch bricht. Es geht nicht darum, Handwerk auszustellen, sondern zu wissen, dass es existiert, und es gezielt einzusetzen. Genauso in der Fotografie: Ich kann die Kontrolle abgeben, eine Lochkamera bauen oder bewusst grobkörniges Papier wählen. Entscheidungen wie diese hängen davon ab, was ich vermitteln will – etwa Menge und Chaos im Alltag. Da bearbeite ich nicht jedes Bild einzeln, sondern entwickle eine Idee, wie ich Menge darstelle.
ML: Könnt ihr noch mal konkreter über eure Praxis sprechen? Wie arbeitet ihr, und wo unterscheidet ihr euch?
PH: Bei mir beginnt alles mit einer Art Überproduktion. Ich mache zu viele Bilder und schreibe zu viele Texte. Der eigentliche Prozess ist das Filtern: Aus 5000 Bildern vielleicht zwei zu identifizieren, die für eine Ausstellung interessant sind. Ähnlich bei den Texten: Ich notiere Skizzen und Ideen und greife später darauf zurück, wenn sie zu einem Projekt passen. Es geht darum, aus diesem Wegbereiter-Material die relevanten Stücke herauszuarbeiten.
SabS: Ich glaube, so ganz weit bin ich davon nicht entfernt. Ich habe allerdings immer ein Framing. Also ich habe ein Projekt ... ein Projekt ist vielleicht zu viel gesagt, ich habe vielleicht einen Titel, also so wie „Tiere und Architektur“, inspiriert von einem Buch über Tiere und ihre Bauten sowie die Gestaltung von Zoos. Das führte mich zu „Animals in Architecture“ – eine Verschiebung hin zu uns Menschen und unseren Gebäuden und denen, die wir für Tiere ersinnen. Oder Album, mein Einstand, basierte auf einem Fotoalbum aus den 50erund 60er-Jahren, das ich auf einem Flohmarkt fand. Daraus habe ich Texte entwickelt, die sich an den Bildern entlangschreiben. So entsteht ein Rahmen, den ich befülle.
ML: Das ist, glaube ich, ein ziemlich starker Unterschied zwischen euch. Paul, du hast eher einen autobiografischen Ansatz in deiner Arbeit, während du, Sabine, eher recherchierst?
SabS: Martina Hefter hat mal gesagt: „Man schreibt über das, wozu man Zugang hat.“ Aber ich denke oft, ich möchte mir auch Zugänge verschaffen. Als ich damals War Photographer von James Nachtwey gesehen habe oder an Robert Capa dachte, war ich total fasziniert. In der Fotografie finde ich es wichtig, sich physisch in Situationen zu begeben – ob hier in Berlin oder anderswo. Ich bin mit Mittelformatkameras losgezogen und habe gemerkt, wie sehr äußere Einflüsse wie Licht oder Wetter die Arbeit prägen. Zum Beispiel in Island, als ich für The Origin of Values zum Thema Walfang fotografiert habe: Wir standen vor dieser Walfabrik von Kristján Loftsson, die während der Pandemie stillgelegt war. Es war eiskalt, und mir sind fast die Finger abgefroren. Aber genau diese physische Erfahrung – vor Ort zu sein, die Bilder von Sea Shepherd zu sehen und investigativ zu arbeiten – bringt mich zur Fotografie. Es geht nicht nur darum, Gedichte am Schreibtisch zu schreiben, sondern auch darum, zu wissen, wie es sich anfühlt, an solchen Orten zu sein. Die Fotografie zwingt mich dazu, an den Ort zu gehen und mir ein Bild im wahrsten Sinne des Wortes zu machen. Das hilft mir auch beim Dichten. Ich mache nicht nur Texte aus Texten – ich habe ein großes Archiv im Kopf –, aber die Fotografie bringt mich in diese physischen Räume. Zum Beispiel im Griffith Park in Los Angeles: Dort habe ich den verlassenen Zoo fotografiert. Diese Magie des Ortes hat mich inspiriert. Für die Lyrik müsste ich das nicht unbedingt tun, aber genau das zieht mich zur Fotografie. Die Frage, wann man auf den Auslöser drückt und warum, ist zentral. Wir leben in einer Welt voller Bilder, aber kaum jemand lehrt uns, wie man Bilder liest. Walter Benjamin sagte: „Was nie geschrieben wurde, lesen.“ Genau das fehlt oft. Früher gab es Magazine wie Life, die Geschichten über Bilder erzählten. Heute passiert das wieder verstärkt, aber oft ohne Reflexion.
ML: Und bei dir, Paul? Schreiben und Fotografieren sind unabhängige Praktiken, die du im Editionsprozess zusammenbringst?
PH: Ja, genau. Ich schreibe nicht zu einem Bild und fotografiere nicht basierend auf einem Text. Beide Aktivitäten sind unabhängig, aber sie behandeln ähnliche Themen und haben eine ähnliche Ausdrucksweise. Es gibt Fälle, in denen Texte oder Bilder von mir alleine veröffentlicht werden oder in einem eigenen Kontext stehen. Und dann gibt es die Fälle, in denen Text und Bild zusammenkommen. Wenn ich zum Beispiel für ein Magazinlayout angefragt werde, überlege ich mir genau, was der Kontext des Magazins ist und was ich dazu sagen möchte. Oft platziere ich Texte direkt auf Bildern. Ich überlege mir: Was für ein Gefühl oder was für einen Inhalt vermittelt dieses Bild? Und was passiert, wenn dieser Text dort steht? Bricht es die Aussage, verstärkt es sie, faltet es sie zusammen? Es kann schnell kippen und oberflächlich werden. Ich denke darüber nach, welche Gesamtkompositionen sich ergeben – sowohl inhaltlich als auch formell. Alle diese Art Layouts mache ich selbst.
SabS: Auf deiner Galerie-Homepage wirkt das fast filmisch. Deine Texte vermitteln ein Gefühl, als ob man in einem Auto sitzt, den Arm aus dem Fenster hält und diese Bewegung macht. Es erinnert mich an Sommerferien, die erste Zeit mit dem Führerschein, den ersten Ausflug nach Frankreich – dieses Freiheitsgefühl, das man auch in Amerika spüren kann, trotz aller Schwierigkeiten. Das finde ich wirklich beeindruckend, weil es bei dir so filmisch in Bewegung gesetzt wird.
PH: Ja, ich glaube, es ist wichtig, sich diese Art Gefühl immer wieder in Erinnerung zu rufen. Egal, ob in Amerika oder sonst wo. Trotz Hamsterrädern und dem täglichen Struggle. Man muss sich mentale und physische Freiräume schaffen. Wir sind ja immer noch lebendige Individuen. Auch mir fällt das schwer, und es gibt nur wenige Momente, in denen ich diese Freiheit wirklich spüre. Aber wenn sie da ist, habe ich so eine Art luziden Moment. Das hat nicht nur mit Freiheit zu tun, sondern auch mit Klarheit im Denken. Gerade in der Künstler∙innenexistenz gibt es ja oft Phasen, in denen man nur im Standby-Modus funktioniert. Aber dann kommen diese seltenen Momente der Klarheit, wo Dinge plötzlich Sinn ergeben und man in seiner Arbeit oder auch im Privaten weiterkommt. Diese luziden Momente wahrzunehmen und wertzuschätzen ist für mich superwichtig – und das vergisst man schnell.
ML: Freiheit ist ein gutes Stichwort. Sabine, du arbeitest oft in kollaborativen Zusammenhängen. Das interessiert mich, weil viele deiner Bücher kongenial von Andreas Töpfer gestaltet sind, du hast gerade mit Martina Kieninger in einer Performanceserie zusammengearbeitet und das Haus für einen Boxer mit drei anderen Künstler∙innen gemacht. Seit Langem arbeitest du mit Matthias Holtmann zusammen.
SabS: Ich bin ein Teamplayer. Man müsste die anderen fragen, aber es bedeutet oft, die Komfortzone zu verlassen. Mit Andreas Töpfer weiß man mittlerweile, was man voneinander erwarten kann. Er arbeitet mit allen, die bei Kookbooks erscheinen, und macht aus Manuskripten auf kongeniale Weise Bücher. Seine Handschrift zieht sich durch alles, was bei Kookbooks erscheint. Unsere Zusammenarbeit basiert darauf, dass keiner dem anderen vorschreibt, wie etwas zu machen ist. Man legt etwas vor und ist gespannt, was der andere daraus macht. Es geht darum, sich als vollwertige künstlerische Partner∙innen zu akzeptieren und nicht nur eine Dienstleistung am Manuskript zu erbringen. So arbeite ich auch mit anderen zusammen. Es ist keine Band im klassischen Sinne. Jeder hat seine eigenen Gedanken und setzt sie um. Diese Kollaborationen sind sehr freiheitlich und unabhängig. Wir haben ein gemeinsames Thema und sind gespannt auf die Herangehensweise des∙der anderen. Es geht nicht darum zu sagen: „Ich habe das so gemacht und du musst es jetzt so machen.“ Ich bin nicht der Master of Ceremony, der andere engagiert und ihnen sagt, was sie tun sollen. Alle haben mehr Spaß, wenn sie frei sind in dem, was sie tun wollen. Bei der Rotten Kinck Schow war es ähnlich. Wir hatten ein gemeinsames Thema und jede brachte etwas ein. Man choreografiert es gemeinsam, aber es wäre falsch zu denken, dass wir ein eingespieltes Team sind.
ML: Da wir gerade von Lesungen sprechen: Wie zentral ist das bei dir Paul, wirst du auch zu Lesungen eingeladen?
PH: Ja, das kommt schon mal vor. Zum Beispiel hatte ich erst kürzlich zwei Lesungen im Rahmen einer Ausstellung in Düsseldorf. Das war so halb selbstorganisiert, halb auf Einladung. Die Ausstellungsmacher wussten von meiner Schreibpraxis und haben gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte. Und ich mache das eigentlich ganz gerne. Aber im Verhältnis zu meinen anderen Aktivitäten passiert das eher selten.
ML: Liegt das an den Verlagen?
PH: Genau, die Verlage, mit denen ich arbeite, sind nicht darauf ausgerichtet, ihre Autor∙innen durch Buchhandlungen zu schicken oder Lesungen zu organisieren. Und ich könnte und würde diese Organisation auch nicht selbst übernehmen wollen. Lustigerweise habe ich die ferne Ambition, dass eine meiner nächsten Publikationen ein reines Textbuch wird. Dafür würde ich dann wahrscheinlich mit einem Verlag zusammenarbeiten, der stärker im Literaturbereich aktiv ist und mehr Fokus auf Lesungen legt. Denn das Lesen der Texte ist für mich ein klarer Teil meiner Arbeit. Allerdings hat die Literatur arbeitspragmatisch gesehen in meinem Alltag oft eine niedrigere Priorität. Erst kommen die Bilder: Welche zeigen wir? Wann werden sie produziert? Wie viel kostet es? Wer holt sie ab? Wer baut sie auf? Und erst dann denkt man an Nebenaktivitäten wie Lesungen.
ML: Lesungen bringen ja auch viele Fragen mit sich.
PH: Total! Aber da ich eher im Kunst-Kontext arbeite, stehen andere Dinge oft im Vordergrund. Gewissermaßen zu Recht, weil die Leute in dem Zusammenhang natürlich primär wegen der Bilder kommen.
SabS: Aber online ist es ja anders. So bin ich auf deine Arbeiten gestoßen. Da waren Text, Stimme und Bilder sofort präsent – auch in kleinen Filmen. Das war wie eine Ausstellung to go. Alles war gleichzeitig da und gleichwertig.
PH: Emotional sind alle Aktivitäten für mich auch komplett gleichberechtigt. Aber im Studioalltag geht es viel um die Bilder: Wo sind sie physisch? Wer macht was damit?
ML: Ist die Idee eines reinen Textbuchs dann auch ein Versuch, dich stärker auf Literatur zu fokussieren?
PH: Ja, vielleicht. Aber es fühlt sich vor allem einfach richtig an. Ich denke da gar nicht so sehr drüber nach, wie es wahrgenommen wird oder wer es ernst nimmt. Ich habe bisher acht Bücher veröffentlicht – zwei davon waren nur Bilder, der Rest Texte und Bilder gemischt. Jetzt fühlt es sich langsam so an, als wäre es an der Zeit, sich nur auf Text zu konzentrieren.
SabS: Aber man darf sich nicht täuschen – selbst bei Verlagen organisiert man Lesungen oft selbst oder wird von Festivals eingeladen. Große Lesereisen hatte ich nie.
PH: Darum geht es mir auch nicht. Es geht eher darum zu identifizieren, was für mich selbst in diesem Moment wirklich Bedeutung hat. Und ob ich die Fähigkeiten besitze, adäquat darüber zu sprechen. Alles andere – ob ich zu Lesungen eingeladen werde oder mit welchem Verlag ich zusammenarbeite – ist zweitrangig. Die Frage ist nur, ob man Raum findet für diesen Versuch.
published in Sprache im Technisches Zeitalter, Issue 254, June 2025